Badetag


Nicht nur vom Duschen, auch vom Baden und sonstigen Reinigungs- und Hygieneaktionen für Körper und Seele könnten wir Alten und weniger Alten stundenlang erzählen.
Die winzig kleine Wohnküche - ich schätze die Fläche auf acht Quadratmeter - war der Schauplatz des samstäglichen Bades. Die Mama holte dazu eine große ovale Wanne aus Zinkblech vom Getreideboden und befüllte diese mit heißem Wasser, das in einem großen Topf auf dem mit Holz und Kohle beschickten Küchenherd die erforderliche Temperatur bekommen hatte. Nackt und je nach Jahreszeit und vorausgegangenen Freizeitaktivitäten mehr oder weniger dreckig stand ich daneben und wartete, bis durch das Hinzuschütten von kaltem Wasser aus der Leitung im Eck die richtige Temperatur erreicht war. Dann durfte ich einsteigen, und die Mama begann das Handwerk der Reinigung ihres Fleisches und Blutes. Sank die Temperatur nach einiger Zeit ab, so wurde mit einem kleinen Topf aus dem "Schiffla", einem schmalen eingebauten Boiler an der rechten Seite des Herdes, nachgefüllt. Natürlich konnte die Mama nicht die ganze Zeit dabeibleiben, sie hatte ja auch noch anderes zu tun. So gab es auch Minuten der Muße und des Träumens, wo man(n) mit den luftigen, duftigen Schaumbergen spielte oder seinen eigenen Körper erforschen konnte.
Aber irgendwann hieß es aufstehen, damit aus dem bereitgestellten Topf - hoffentlich war die Temperatur richtig, denn meistens war es entweder zu heiß oder zu kalt - der kleine Körper vom Schopf bis zu den unteren Extremitäten mit klarem Wasser übergossen werden konnte, damit nicht der inzwischen zerfallene und graubraun gewordene Seifenschaum auf der Haut haften blieb.

Das war der Moment, den ich am wenigsten mochte bei der ganzen Prozedur, denn, bedingt durch die wohlige Wärme des längst vom Seifenschaum undurchsichtig gewordenen Wassers der Wellness-Wanne, sowie durch unbestimmte, schaurig-wonnige Sehnsüchte, die ich nicht einordnen konnte und die durch manche Texte der Top-Hits der aus dem Radio dudelnden Schlager der Woche noch gefördert wurden, stand der Zeiger meiner körpereigenen Uhr, auf die ich mich heute noch verlassen kann, auf 14 h 10. Schwupps, kam der erste Liter des köstlichen Nasses von oben. "Zu heiß!" Also gab die Mama noch ein bisschen kaltes hinzu. Schwupps, der zweite Liter. "Zu kalt!"
Binnen weniger Sekunden, so schnell kann sich kein Uhrzeiger bewegen, wurde es halb sechs. Aus die Träume! Abtrocknen, abrubbeln mit hartem Handtuch. Kuschelige, wohlig-flauschige Verwöhn-Badetücher? Fehlanzeige. Das Leben war rau. Und hart. So hart wie mein Strohsack, auf dem ich sodann, nach einem kurzen Abendgebet "Müde bin ich, geh zur Ruh, schließe meine Äuglein zu, Vater, lass die Augen dein über meinem Bettlein sein" oder "Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein" die Nacht verbrachte, in einem der ungeheizten Räume des großen Bauernhauses, der zugleich als Vorratskammer diente, und in dem es nach geräucherten Bratwürsten duftete. Diese waren, mir unzugänglich, in einem kleinen Schrank, einem sogenannten Pelder - das einzige Wort in Franken, das mit einem harten P beginnt, weil es ein B"hälter ist und das H ja irgendwie artikuliert werden muss - bestanden, weggeschlossen. Die abschließbaren Türen waren aus mit Holz umrahmten Drahtgittern, so dass ich die Würste da hängen sehen konnte, aber nicht rankam. Die Rolle des Thantalus scheint mir für die meiste Zeit meines Lebens auf den Leib geschrieben zu sein.
Ab 1953, da war ich dreizehn, wurde alles anders. Da wurde eine neue Volksschule gebaut, von der ich zwar nichts hatte, weil ich aufs Gymnasium geschickt worden war. Dennoch profitierte ich enorm von dieser für das Dorf so segensreichen Einrichtung. Im Keller war nämlich ein Wannen- und Duschbad mit mehreren durch Mauern getrennten Kabinen installiert. Dort durfte die Öffentlichkeit am Samstag ab 14 Uhr Körperreinigung betreiben. Man zahlte seinen Obolus, eine Mark für ein Wannenbad, fünfzig Pfennig für eine Dusche, und verschwand für eine halbe Stunde bzw. zwanzig Minuten hinter einer undurchsichtigen Tür, die man verriegeln konnte.
Schon die Wartezeit im Vorraum war interessant. Die kleinen Leute, fast immer die gleichen, diejenigen, die zuhause keine Bademöglichkeit hatten und dennoch auf Reinlichkeit hielten, saßen da, ohne Kontrabass, und erzählten sich was, sußen du und urzuhltun such wus, über Gott und die Welt. Ich war ein guter Zuhörer. Sagen tat ich nichts, dazu fühlte ich mich zu jung.
Irgendwann war Mann, der man, mit allen hormonellen Begleiterscheinungen, inzwischen fast geworden war, dran. Dann ging es voller Erwartung in das intime Kabinett. Meistens nahm ich ein Wannenbad und genoss den Luxus des unerschöpflichen Vorrats an warmem Wasser aus der Wand, des Platzes, der mir in der blitzend weißen Keramikwanne zur Verfügung stand, und das Alleinsein. Zumindest die Mama war nicht mehr dabei. Aus den schönsten Träumen wurde man nach einer halben Stunde gerissen, wenn die Badefrau energisch gegen die Tür klopfte: "Wossisn mit demm, is der gschdorm?

Mein schönstes Badeerlebnis hatte ich aber doch zu zweit in einer Wanne. Mit einer reifen Frau. Dazu muss ich etwas ausholen, schon, um die Spannung zu steigern:
Mein Vater hielt in notdürftig zusammengezimmerten Holzkisten, wie viele Leute damals kurz nach dem Krieg, ein paar Dutzend Karnickel, bei uns Stallhasen genannt. Dadurch hatten wir sonntags fast immer einwandfreies Biofleisch aus eigener Erzeugung, als köstliche Beilage zu den ebenso köstlichen rohen Kartoffelklößen, welche die Mama und der Vater gemeinsam produzierten, lange bevor der Henglein damit anfing.
Ein By-product, ein Nebengewinn der Karnickelwirtschaft, war für mich noch der Umgang mit den lieben Tierchen vor ihrem Afterlife, diese großäugigen sanftmütigen Wesen, die man auf den Arm nehmen und streicheln konnte. Nichts Schöneres als so ein weiches, wildzuckendes, von einem dicken samtigen Fell bekleidetes junges Leben auf der Haut zu spüren.
Beim Schlachten derer, die ich liebgewonnen hatte, schaute ich nicht zu. Da ich der einzige Sprössling meiner Eltern war, wurde ich natürlich zuweilen, bei aller Strenge, auch verwöhnt. Und zwar immer dann, wenn es Hasenbraten gab. Das Beste fürs Kind! Vor dem eigentlichen Essen durfte ich mich an den knusprig gebratenen Nieren, den Nierlein, erlaben. Dies ging damals, in der größten Not, auch ohne Brot. "Ginterla, moogst di Nierli?"
Hätte ich den Asketen spielen und Nein sagen sollen? Ich muss zugeben, das fiel mir im Traum nicht ein. Sobald der kleine nackte Kerl zwischen Zwiebelringen im schwarzen Tiegel lag und vor sich hin brutzelte, lief mir doch das Wasser im Munde zusammen. Die Nierli, die Nierli.
Als ich meine ersten Englischlektionen auf dem Gymnasium hinter mir hatte - auf der Oberrealschule gab es keinen frühen Lateinbeginn - buchstabierte ich diese als "nearly". Sie zu verspeisen, ein Genuss, fast, almost, nearly so vollkommen wie die schönste Sache von der Welt, die noch vor dem Essen rangiert
Wie komme ich jetzt in die Badewanne? Drehen wir die Uhr ein paar Jahre zurück. Meine Tante Berta, die Schwester meiner Mama, jung und voll erblüht, war in der Großstadt in einem vornehmen Haushalt "in Stellung". Wir besuchten sie, mit dem Zug natürlich. 1944 waren die meisten Bahnhöfe noch heile Prachtbauten und die Züge fuhren, ohne von Tieffliegern beschossen zu werden.
Es muss ein Samstag gewesen sein. Also war Baden angesagt. Die Verwandtschaft des Dienstmädchens kommt vom Bauerndorf zu Besuch. Da muss man als Gnädige, die frau ist, mal ein Auge zudrücken und großzügig sein und dem armen Bauernbüebla Gelegenheit geben, sich den Misthaufengeruch vom Leib zu waschen. Also durfte ich mit der schönen Tante Berta, die ich schon damals verehrte, nicht zuletzt deswegen, weil sie immer originelle, lustige Geschichten und Sprüche draufhatte, in die bis zum Rand gefüllt Wanne steigen. Ich war vier, ein aufmerksames, aufgewecktes Kind, immer voller Neu- und Wissbegierde. Ich hatte Mühe, nicht unter die Wasseroberfläche zu rutschen, so klein war ich noch. Sie lag in der warmen Lauge, rosy buds above the water, und schloss wohlig die Augen. In diese Stille hinein kam meine unverhohlene Bewunderung für die Ästhetik des Weiblichen: "Mensch, Tante Berta, hast du schöne Nierli!"
Wie ein Clown, der ja bekanntlich auch nie über seine eigenen Witze lacht (falls er ein guter Clown ist), muss ich wohl immer trauriger ausgesehen haben, je mehr die beiden Schwestern lachten. Aufklärung fand nicht statt. Jahrelang wunderte ich mich noch über die lachenden Gesichter, die ich immer dann zu sehen bekam, wenn die Geschichte im Verwandten- und Bekanntenkreis in meinem Beisein erzählt wurde. Es sollte noch ein gutes Jahrzehnt dauern, bis es mir vergönnt war, meine abenteuerlichen, unzutreffenden Vorstellungen von der weiblichen Anatomie eigenhändig zu überarbeiten.

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